Dienstag, 25. November 2008
ein teil der atmosphäre
"Der Mond ging auf und erhellte den Himmel, aber noch sandte er sein Licht nicht in die tiefe Schlucht des reißenden, schäumenden Ogowé, ein Anblick von göttlicher Schönheit. Zu beiden Seiten der formlosen Düsternis erhoben sich die Gipfel der Sierra del Cristal. Der Tomanjawki und die Berge neben ihm auf der entfernteren Seite des Flusses zeichneten sich besonders eindrucksvoll gegen den Himmel ab. In den schwach erleuchteten höheren Tälern hingen träge Wolken und Girlanden aus silbergrauem Dunst, der sich zuweilen auch sanft bewegte. Der Olangi schien sich bis über den Fluß zu erstrecken und mit seiner blanken Masse jeglichen Durchgang zu versperren, während im Nordosten ein komisch geformter Bergkegel auffiel, den ich später als den Kangwe erkannte.
In der Dunkelheit umschwärmten mich Tausende von Glühwürmchen, und unter mir rauschte unablässig die weiße Gischt der Stromschnellen durch die tiefschwarze Nacht. Außer ihrem Tosen hörte man keinen Laut. Die majestätische Schönheit der Umgebung faszinierte mich; gegen einen Baum gelehnt betrachtete ich die grandiose Szenerie.
Doch glauben Sie nicht, daß ich dadurch zu poetischen Reflexionen veranlaßt werde, wie dies bei anderen Menschen angesichts von Naturschönheit der Fall ist. Mir passiert das nicht.
Ich verliere nur jegliches Gefühl für menschlche Individualität, jede Erinnerung an das menschliche Leben mit all seinem Ärger, den Sorgen und den Zweifeln. Ich werde zu einem Teil der Atmosphäre. Wenn für mich ein Himmel existiert, dann ist er hier."

(Mary Kingsley "Die grünen Mauern meiner Flüsse - Aufzeichnungen aus Westafrika (1897); S. 87-88)

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